Mit Musik nach Holland

Die Genealogie dörflicher Familien ist nicht nur in Thüringen meist wenig spektakulär, abgesehen von den vielfachen Verbindungen in die Nachbardörfer. Die Großbauern verheirateten ihre Kinder möglichst untereinander und waren bereits in jungen Jahren Mitglieder der Gemeindeobrigkeit. Ortsansässige Handwerker, Knechte und Tagelöhner gehörten zum wenig einflussreichen Teil der Dorfbevölkerung. Um so interessanter ist der Werdegang eines in dieser unteren Schicht geborenen Seebergener Sohnes.

Vom Musiker zum Kaufmann

Als ich vor Jahren begann, nach meinen väterlichen Vorfahren in Seebergen im Gothaer Land zu forschen, habe ich als Anfänger viel Unterstützung von der dortigen Ortschronistin Frau Wolf bekommen. Seebergen liegt am Fuße des Großen Seebergs im Lankreis Gotha (Thüringen) und ist vor allem durch seinen Sandstein bekannt. Zahlreiche berühmte Gebäude wurden nachweislich aus diesem Sandstein erbaut. Bis 1823 war Seebergen eine Exklave des Fürstentums Schwarzburg-Rudolstadt, danach gehörte es bis 1918 zum Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha. Zu meinen dortigen Vorfahren darf ich die meisten alteingesessenen Familien Seebergens zählen, vor allem die großen Familien Henneberg und Rohbock. Während die Familie Rohbock dort weiter blüht, lebt von der ehemals ebenso umfang- und einflussreichen Familie Henneberg mit der Cousine meines Großvaters nur noch eine einzige geborene Henneberg in Seebergen.

Zur Familie Henneberg, die ich in Seebergen und Umgebung weiterhin erforsche, konnte mir Frau Wolf einen interessanten Hinweis geben, den sie in der vom damaligen Seebergener Pfarrer Domrich verfassten Chronik fand. Sie hat mir freundlicherweise eine Kopie des Textes zur Verfügung gestellt, den ich hier in großen Teilen wiedergeben möchte:

d. 9. Juni 1781 kam Herr Jo. Nicol Henneberg aus Amsterdam allhier an. Er ist der jüngste Sohn von 6 Geschwistern, die den Schreiner gleichen Nahmens zum Vater allhier gehabt haben. Nachdem er in Hannover als Trompeter gelernet, sein armer Vater aber ihn wenig derzu schicken konnte; so begab er sich, nachdem er ausgelernet, nach Engeland und wurde Königlicher Gard – Trompeter; blieb einige Jahre daselbst, kam sodann nach [Den] Haag in Holland, wo er in der Musico Information gab. Ging gar bald hernach mit einem vornehmen Herrn als Musicus auf Reisen nach Franckreich, Spanien, Portugall, Italien, Dänemark, Schweden und endl. nach Amsterdam. und fing von neuem an, in der Musica Unterricht zu geben. Es fügte sich, daß er sich mit einer dasigen Kaufmanns-Witwe ehelich verbinden konnte, welche einmal nach dem Tode ihrer Eltern an die 100 000 Rtlr. an Erbschaft erhielt. Sie ist reformierter Religion. Um seine geschwister noch einmal u. s. Geburts Ort allhier zu sehen, welche alle noch lebeten, die er in 14 Jahren nicht gesehen hatte, reisete er hieher. bezeugte sich sehr wohlthätig gegen dieselben, gab dem hiesigen Choro Mus.[ico] eine Herzlichkeit, lud d Hr Amtmann P. u. die beed Schuldiener dergl. ; und zeugte dabey, daß ero besonders auf der Clarinet ein bestechende Geschicklichkeit sich aquiriret. Er besuchte auch 4 mal unseren Gottesdienst und legte jederzeit 1 Holländischen Gulden /13 gr. 4 Pfg./ auch dem Chore ingl. einen denn auch am 2th Bußtage dergl. vor das Mädgenhaus gethan. Er ging kostbar einher. Hatte seine gülden Uhr, silbern Degen und kostbrem diamantRing vor 200 Guld; doch sein Verhalten, da er sich seines Glückes nicht erhob und geg jedermann höflich und freundlich erwies.

Pfarrchronik Seebergen (Domrich)

Randnotiz 1

1784. ließ H. Henneberg seinen jüngsten Bruder hier Rechen und Schreiben lernen, nahm ihn hernach zu sich nach Amsterdam. Ingl. veranstaltete er, daß seine noch übrig 4. Geschwister der Gemeinde Land hier pacht könnte u. begleichte das Geld […] voraus. Ersterer Bruder verstarb 1805 in [Den] Haag als ein ansehnl. Kaufherr

Domrich

Randnotiz 2

Dieser H. Henneberg lebt noch 1805 in Amsterdam als einer der ansehlichsten Kauf-Herren.

Domrich

Das Dokument führt weiterhin auf, dass Johann Nicolaus Henneberg während seines Aufenthalts auch am Gothaer und am Rudolstädter Hof gastiert hat und dort einige seiner Klarinetten-Kunststücke vorgeführt hat. Resultierend hat er als Dank 10 Louis d’or und später einige Porträts fürstlicher Personen nach Amsterdam zugeschickt bekommen.

Diese Einträge haben Frau Wolf und mich über ein paar Jahre beschäftigt. Beide haben wir auf unterschiedlichste Weise nach dem Verbleib der Seebergener Henneberg-Brüder gesucht. Frau Wolf hatte sogar mal einen (für unser Verständnis wohl typisch niederländischen) Caravan-Touristen angesprochen, der sich nach Seebergen verirrt hatte. Sie bekam von diesem einige Zeit später auch die Adresse des Reichsarchivs in Amsterdam. Ihre dorthin gehende Anfrage blieb jedoch leider unbeantwortet.

Die musikalische Laufbahn von Johann Nicolaus ist wohl vor allem der, in jener Zeit vorrangig in Thüringen entstandenen Adjuvantenmusik zuzuschreiben. Hätte man sonst sein musikalisches Talent entdeckt? Oder eben das der vielen Bache? Johann Nicolaus hat leider nicht wie der große JSB die Laufbahn eines Musikers weiter verfolgt. Seebergen wäre sonst ebenso wie Wechmar als ein Ursprungsort barocker Musik bekannt geworden. Vielmehr durch seinen Sandstein und die durch dessen Bearbeitung hervorgerufene Berufskrankheit, der Silikose rückte Seebergen in das historische Bewusstsein. Diesem Thema sowie dem Seebergener Arzt und Silikose-Erfoscher Dr. Bube werde ich mich in einem späteren Artikel widmen.

Der Zufall wollte es nun wohl, dass sich kürzlich mit Herrn Lens aus der niederländischen Provinz Noord-Holland ein neues AGT-Mitglied fand. Seine väterlichen Vorfahren stammen aus Sülzenbrücken, sie schrieben sich dort jedoch Lenz. Da ich selbst Lenz-Vorfahren in Sülzenbrücken nachweisen kann, habe ich ihm meine Hilfe diesbezüglich sehr gern zugesagt. Gleichzeitig habe ich ihn natürlich gebeten, ob er bei Gelegenheit nach meinem lang gesuchten Weltenbummler und Kaufmann Henneberg suchen kann. Herr Lens hat sich sofort an die Arbeit gemacht und mir einen Tag später die ersten Suchergebnisse präsentiert.

Nachfolgend soll auch die Familie vorgestellt werden, um die es hier geht:

Das Oberhaupt der Familie war der Seebergener Schreinermeister Johann Heinrich Henneberg (~ 17.07.1699 in Seebergen, † 27.01.1772 in Seebergen an den Folgen einer Lungenentzündung). Sein und gleichzeitig mein ältester nachzuweisender Vorfahre ist Nicolaus Henneberg * (err.) 1614, b. 23.05.1675 in Seebergen.

In erster Ehe war er verheiratet (∞ 01.11.1718 in Seebergen) mit Maria Dorothea geb. Hempel (* 14.10.1698 in Seebergen, † 30.04.1726 in Seebergen)

Aus dieser ersten Ehe gingen 4 Kinder hervor, die jedoch vor dem Seebergen-Besuch von Johann Nicolaus im Jahr 1781 bereits verstorben waren:

  1. Anna Maria ~ 02.02.1720 in Seebergen † 25.08.1758 in Seebergen ∞ 1/1 05.10.1737 in Seebergen mit Henneberg, Johann Sebastian, ev., Schenkwirt in Seebergen <Henneberg, Andreas, ev., Tagelöhner in Seebergen und Keil, Martha Elisabeth, ev.>, ~ 23.02.1713 in Seebergen, † 18.03.1753 in Tüttleben. ∞ 2/1 07.05.1754 in Tüttleben mit Rohbock, Johann Heinrich, ev., Schenkwirt in Tüttleben <Rohbock, Leonhard, ev., Müller in Seebergen, Ober-Mühle und Alkenbrecher, Barbara, ev.>, * (err) 25.07.1717, † 19.10.1770 in Seebergen.
  2. Barbara Maria ~ 25.08.1722 in Seebergen † 30.04.1748 in Seebergen ∞ 16.06.1744 in Seebergen mit Schmidt, Johann Heinrich, ev., Leinewebermeister in Seebergen <Schmidt, Johann Adam, ev., Leinewebermeister in Seebergen und Freytag, Elisabeth Maria, ev.>, * 22.12.1718 in Seebergen, † 08.06.1777 in Seebergen.
  3. Johann Christoph ~ 23.04.1726 in Seebergen † 30.06.1726 in Seebergen
  4. Johann Nicolaus ~ 23.04.1726 in Seebergen † 02.04.1727 in Seebergen

Nachdem des Schreiners Johann Heinrich erste Frau Maria Dorothea 1726 verstorben war, heiratete er am 13.07.1727 die ebenfalls aus Seebergen stammende Eva Barbara geb. Theiß (* 06.02.1710 in Seebergen, † 14.03.1767 in Seebergen), welche über lange Jahre dortige Wehmutter war. Kinder aus dieser Ehe waren:

  1. Barbara Elisabeth ~ 06.09.1728 in Seebergen b. 13.01.1734 in Seebergen
  2. Maria Dorothea ~ 16.02.1731 in Seebergen
  3. Johann Georg Heinrich ~ 25.01.1733 in Seebergen † 18.06.1734 in Seebergen
  4. Maria Barbara ~ 10.08.1735 in Seebergen † nach 1766
  5. Johann Sebastian, Schreiner in Seebergen * 01.12.1737 in Seebergen † 09.11.1811 in Petriroda (Schlagfluss) „starb bei seinem Besuch daselbst“. ∞ 10.05.1768 in Seebergen mit Postel, Martha Justina Elisabetha, ev. <Postel, Johann Georg, ev., Mühlberg>, * (err) 07.12.1735 in Ohrdruf, † 23.04.1809 in Seebergen.
  6. Anna Maria * 20.01.1740 in Seebergen † 19.05.1798 in Seebergen ∞ 1/2 26.10.1762 in Seebergen mit Neuland, Johann Christoph, ev., Waldknecht in Seebergen <Neuland, Johann Caspar, ev., Waldknecht in Seebergen und NN, Catharina, ev.>, ~ 27.12.1722 in Seebergen, † 25.07.1788 in Seebergen.
  7. Anna Barbara * 10.11.1742 in Seebergen † 28.11.1825 in Seebergen (Altersschwäche) ∞ 1/3 14.07.1789 in Seebergen mit Tenner, Johann Leonhard, ev., Schuhmachermeister in Seebergen <Tenner, Johann Christoph, ev., Schuhmachermeister in Seebergen und Möhring, Anna Barbara, ev.>, * 07.01.1736 in Seebergen, † 12.05.1818 in Seebergen.
  8. Johann Matthias, ev., Schreinermeister in Seebergen * 20.01.1745 in Seebergen † zwischen 1786 und 1790 ∞ 25.11.1771 in Seebergen mit Fuchs, Susanna, ev. <Fuchs, Johann Oswald, ev.>, * (err) 12.06.1747 in Tröchtelborn, † 18.11.1817 in Seebergen.
  9. Johann Nicolaus, Kaufmann in Amsterdam * 02.09.1747 in Seebergen † 23.03.1810 in Amsterdam
  10. Johann Heinrich, Kaufmann in Den Haag * 15.02.1752 in Seebergen † 1805 in Den Haag

Der Schreiner Johann Heinrich Henneberg (~ 1699, † 1772) war neben seinem Beruf 1722 Altarist, später Vormundschafter und 1736 Ober-Heimbürge in Seebergen.

Zu unserem oben genannten Protagonisten, dem Musiker und späteren Kaufmann Johann Nicolaus sowie seinem Bruder Johann Heinrich konnte ich anhand der Seebergener Kirchenbücher (Ev.-Luth. Pfarrgemeinde St. Georg Seebergen), der Chronik des Pfarrers Domrich sowie vor allem durch die Hilfe von Herrn Lens folgendes herausfinden:

Der Musiker Johann Nicolaus war nach seiner quer durch Europa führenden Karriere Mitte der 1770er Jahre in Amsterdam angelangt. Seine erste Gemahlin, die Witwe Louise Rillietheiratete er am 20.03.1778 in Muiden, einer kleinen Stadt zwischen Amsterdam und Amersfoort. Da Johann Nicolaus evangelisch-lutherisch, Louise aber reformierter Konfession war, wird die Trauung dort unkompliziert stattgefunden haben. Für einen Amsterdamer Bürger war hierfür damals ein Strafgeld fällig. Es schien ihm nicht besonders schwer gefallen zu sein, diese Summe aufzubringen. Ob Louise ihr Erbe damals schon antreten konnte, ist noch zu klären. Louise wurde am 29.05.1779 als Patentante von Barbara Dorothea Luise Henneberg in Seebergen genannt, jedoch war sie persönlich nicht vor Ort.

1784 bezahlte Johann Nicolaus an Pfarrer Domrich in Seebergen das Schulgeld für seinen jüngsten Bruder Johann Heinrich, um ihn später zu sich nach Amsterdam zu holen. Für seine vier anderen in Seebergen verbliebenen älteren Geschwister Johann Matthias, Anna Barbara, Anna Maria und Johann Sebastian sorgte Johann Nicolaus, in dem er die Pacht für das Gemeindeland für ein paar Jahre im Voraus bezahlte.

Seine erste Frau Louise starb am 21.11.1785 in Amsterdam und wurde auf dem Friedhof der „Fransch of Waals gereformeerde Kerk“ in Amsterdam begraben. Kinder aus dieser Ehe sind bisher nicht bekannt.

Eine zweite Ehe ging Johann Nicolaus am 20.08.1788 mit der verwitweten Französin Aimé Françoise geb. Lauranceau ein. Die Trauung erfolgte wiederum in einem kleinen Städtchen außerhalb Amsterdams, diesmal in Abcoude, zwischen Amsterdam und Utrecht gelegen. Grund wird auch hier wieder der Konfessionsunterschied gewesen sein, seine zweite Ehefrau war römisch-katholischer Konfession. Sicherlich waren auch hier wieder Strafgebühren zu entrichten. Aimé Françoise brachte ihre Tochter Julie Marguerite Marie Boulot aus erster Ehe mit in diese Verbindung.

Aus dieser zweiten Ehe mit Aimé Françoise entstammten 5 Kinder, die es nun weiter zu erforschen gilt:

  1. Jean Louis François, * 07.06.1789 in Amsterdam, † nach 1799, Taufpate waren Jean Robert Rilliet und seine Gemahlin Françoise (geb. Butini)
  2. Henriëtte Susanne, * 13.06.1790 in Amsterdam, † 29.10.1801 in Amsterdam, Taufpaten waren ihr Onkel Johann Heinrich und seine Frau Geertruij Helena (geb. Vorstius)
  3. Sophie Françoise, * 26.01.1793 in Amsterdam, † nach 1799, Taufpatin war die in Seebergen wohnende Tante Anna Barbara Henneberg. Ob sie bei der Taufe anwesend war, ist nicht bekannt
  4. Anthonia Louisa Maria, * 23.09.1797 in Amsterdam, Taufpatin war ihre Halbschwester Julie Marguerite Marie Boulot
  5. Hanrij, * 11.03.1799 in Amsterdam, Taufpaten waren seine älteren Geschwister Jean Louis François (1) und Sophie Françoise (2).

Patenschaften haben Johann Nicolaus und Johann Heinrich sowie deren Ehefrauen vor allem in den Familien Boulot, Lauranceau und Rilliet übernommen, obwohl sie teilweise nicht der jeweiligen Konfession angehörten.

Während seiner Zeit in Amsterdam hat Johann Nicolaus den vierten Niederländisch-Englischen Seekrieg (1780-1784), die Einnahme der Stadt Amsterdam durch die Preussen im Jahr 1787, die Gründung der Batavischen Republik 1795, in den Jahren 1806-1814 das Königreich Holland unter Louis-Napoléon Bonaparte sowie die napoleonische Kontinentalsperre erlebt. All diese Konflikte führten zum weitgehenden wirtschaftlichen Niedergang Amsterdams und sie werden auch an dem Kaufmann Johann Nicolaus Henneberg nicht spurlos vorüber gegangen sein.

Am 18.12.1795 kaufte Johann Nicolaus ein Haus („Huis, pakhuis en erf, over de Enge Kapelsteeg (Nauwe Kapelsteeg) uitkomende op de Begijnensloot“) in der Kalverstraat, eine der heute bekanntesten Shoppingmeilen Amsterdams.

Entsprechend dem nachgezeichneten Lebenslauf muss Johann Nicolaus mehrerer Sprachen mächtig gewesen zu sein. Neben seiner Muttersprache Deutsch beherrschte er wohl die englische, französische und die niederländische Sprache.

Napoleon Bonapartes Niederlagen bei Leipzig und später bei Waterloo sowie dem damit verbundenen späteren Abzug der Franzosen aus Holland erlebte Johann Nicolaus nicht mehr. Er starb am 23.03.1810 im Alter von 62 Jahren, 6 Monaten und 21 Tagen in Amsterdam und wurde auf dem Friedhof der „Oude Lutherse kerk“ begraben. In seiner Heimat Seebergen bereitete der Rückzug der wenigen übrigen napoleonischen Truppen aus dem Rußland-Feldzug jedoch verheerende Folgen. Das mitgebrachte Fleckfieber raffte eine Vielzahl der Einwohner Seebergens in den Jahren 1813 und 1814 dahin.

Das Schicksal und der Lebensweg des jüngeren Bruders Johann Heinrich, der 1805 als angesehener Kaufmann in Den Haag verstorben sein soll, sind noch weitgehend ungeklärt. Bekannt ist bisher nur, dass er am 29.08.1788 in Amsterdam Geertruij Helena geb. Vorstius heiratete.

Ein Kapellmeister aus Pferdingsleben

Ein weiterer Musiker aus dem Gothaer Land fand seine Heimat in den Niederlanden. So erreichte mich kürzlich eine Nachricht aus den USA zu Johann Christoph Wilhelm Schmelling, der von Pferdingsleben aus in die Niederlande auswanderte. Dessen jüngste Tochter heiratete Willem van Royen und ein Sohn aus dieser Ehe wanderte in die USA aus.

Er wurde in Deutschland geboren, in Pferdingsleben in Sachsen-Weimar nahe der Stadt Eisenach. [Anm. Sachsen-Gotha]

Er stammte aus einer großen armen Familie.  Im Alter von 12 Jahren sollten die Kinder für sich selbst sorgen.  Sie waren gute Musiker, und so verließ Johann mit zwei seiner Cousins, die seine Geige und eine Art Akkordeon trugen, das Haus und spielte auf Jahrmärkten, um Geld zu verdienen.  Das war 1831, ein Jahr nach der Juli-Revolution in Frankreich.  Napoleon war zehn Jahre zuvor in St. Helena gestorben, Beethoven war seit vier Jahren tot und Andrew Jackson war Präsident der Vereinigten Staaten.

Es ist nichts darüber bekannt, wie und wo er die Jahre nach 1831 verbrachte, bis er in seinen Zwanzigern war und nach Westen in die Niederlande, in die Stadt Middleburg in der Provinz Zeeland, gezogen war.  Dort hatte er eine gute Anstellung als Leiter eines Militärorchesters, dem Kapelmeester (Kapellmeister).  Er gab Musikunterricht und scheint gut gewesen zu sein, denn er hatte viele Schüler und verdiente einen guten Lebensunterhalt.

Nachdem er in die Niederlande kam, änderte er seinen Namen in die niederländische Form, Johan Christoffel Wilhelm Schmelling.

Er heiratete ein Mädchen aus Middleburg, das sich als schlechte Hausfrau entpuppte.  Mit ihr hatte er drei Töchter und einen Sohn.  Eine Tochter wurde taub geboren.  Die anderen Töchter waren wild und widerspenstig und liefen von zu Hause weg.  Die Frau starb, und er blieb mit seinem Sohn Eduard zurück, der an Tuberkulose erkrankt war.

Nach dem Tod seiner Frau fand er eine Stelle als Musiklehrer und Chorleiter in Utrecht.  Er unterrichtete auch die Kinder des Adels in Musik und arbeitete jahrelang im Schloss von Renswoude.  WIlly erinnert sich, dass ihre Mutter ihr erzählte, er sei die 30 Kilometer nach Renswoude gelaufen, habe zwei Tage unterrichtet und sei dann zurückgelaufen.

Als er mit seinem Sohn Eduard in Utrecht lebte, mietete er ein kleines Haus (Bekkerstraat 4), da er sparsam war und sicher sein wollte, dass er immer Geld haben würde.  Er freundete sich mit seinen Nachbarn an, insbesondere mit der Witwe Van Deventer, die nebenan wohnte.  Sie heiratete einen Witwer mit vier Kindern, und dann hatten sie noch vier eigene, bevor er starb.  Sie arbeitete als Wäscherin, um ihre Familie zu unterstützen.

Johann wollte sie heiraten, aber sie war nicht geneigt, wieder zu heiraten.  Aber sie mochte ihn und schlug ihm vor, ihre Stieftochter Johanna zu heiraten.  Johanna hatte als Kind einen Unfall und wurde infolgedessen verkrüppelt.  Sie arbeitete zu Hause als Näherin, verstand sich sehr gut mit ihrer Stiefmutter und den anderen Familienmitgliedern. Ihre Stiefmutter hatte Angst, dass sie keinen Mann finden würde, obwohl sie anscheinend ein sehr nettes und angenehmes Mädchen war, und sie wollte einen sicheren Ort für Johanna.  Also heiratete Johanna van Deventer einen 13 Jahre älteren Mann als sie, und sie bekamen innerhalb von zwölf Jahren sechs Kinder.  Sie kümmerte sich auch um Johanns Sohn Eduard, bis er starb, und hatte auch eine seiner Töchter, das taube Mädchen, bei sich wohnen.  Johann holte sie aus dem Institut für Gehörlose in Groningen zurück nach Hause, und sie half ihrer Stiefmutter bei der Betreuung ihrer Halbgeschwister.  Im Großen und Ganzen war Johann mit den Kindern aus seiner zweiten Ehe sehr erfolgreich. Er hatte Johanna sehr gern und war dankbar, dass sie ihm ein gutes Zuhause gab.

Eine seiner beiden wilden Töchter aus seiner ersten Ehe kehrte zu ihrem Vater zurück. Willys Mutter [Gerritje] war ein kleines Kind von sechs Jahren, als eines Abends eine Frau an der Tür stand, ihr Gesicht mit einem dicken Schleier verhüllt, und nach ihrem Vater fragte. Es stellte sich heraus, dass es die lang vermisste Tochter war, aber wie in einem altmodischen schlechten Roman war sie nach Hause gekommen, um zu sterben. Johann fand ein Zimmer für sie, und Johanna besuchte sie, brachte ihr Essen und half ihr, so gut sie konnte.

Er blieb immer in Kontakt mit seinen Verwandten in Deutschland, aber er kehrte nie zurück, um sie zu besuchen. Kurz vor seinem Tod machte er Pläne, dies für einen kurzen Aufenthalt zu tun.   Aber als er alles arrangiert hatte, sogar die Bahnfahrkarte war gekauft worden, wollte er im letzten Moment nicht gehen und Frau und Kinder verlassen.

Er starb drei Tage nach einem Schlaganfall. Die ganze Familie war in dem Raum, in dem er lag, gelähmt, unfähig zu sprechen, aber atmend.  Schliesslich bat der Arzt die Familie, den Raum zu verlassen, und sagte: „Solange Sie hier sind, hat er das Gefühl, dass er Sie nicht verlassen kann“.  So verliessen alle den Raum, sogar Johanna, und wenige Augenblicke später war er verschwunden.“

Willy van Royens Schreiben mit dem Titel „Die Geschichte von Willem und Gerritje und ihren Kindern“

Quellen

  • Domrich, L. N. Pfarr-Chronik. Seebergen
  • Ev.-Luth. Pfarrgemeinde St. Georg Seebergen. (1648-1735). Kirchenbücher 1648-1735, 1736-1800, 1801-1821, Begräbnisse 1822-1858 Seebergen, Thüringen, Deutschland.
  • Stadsarchief Amsterdam. (2014). Archief van de Burgerlijke Stand: doop-, trouw- en begraafboeken van Amsterdam (retroacta van de Burgerlijke Stand), Abgerufen am 30. März 2014 von http://stadsarchief.amsterdam.nl

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